Juli 2022 - Kandelmarsch-Leiter
Kandelmarsch-Leiter
Holz
(Leihgabe T.V. Arminia Esslingen)

Leitern – einfach zu transportierende Geräte zum Hinauf- und Hinabsteigen – sind seit langer Zeit nützliche Gebrauchsgegenstände überall auf der Welt und damit ein, wenn auch unspektakuläres, Gut der Menschheit als Ganzes. Ob im Bergbau oder bei der Brandbekämpfung, ob bei der Erstürmung von Stadtmauern oder der nächtlichen Eroberung von Herzen, wenn es an Haus, Hof und Dach etwas zu reparieren gilt, oder schlicht bei der Obsternte – die einfache Fügung von hölzernen Sprossen mit zwei seitlichen Holmen ergibt ein höchst zweckmäßiges Gerät mit breitesten Einsatzmöglichkeiten. Waren die frühesten bekannten Steighilfen schräg gestellte eingekerbte Baumstämme, sind heutige Exemplare überwiegend aus Aluminium gefertigt. Ob kurz oder lang, breit oder schmal, sind sie stets mit Prüfzeichen versehen, die ihre Sicherheit und Standfestigkeit ausweisen, denn sie unterliegen im Besonderen den Gesetzen des Arbeitsschutzes und sind im Allgemeinen mit einiger Vorsicht zu gebrauchen.
Die Farbgebung und die Anzahl der Sprossen der ausgestellten Leiter lassen es schon erahnen: Der Zweck dieser besonderen Leiter war und ist ein anderer. Sie kommt beim Esslinger Kandelmarsch zum Einsatz. Damit ist sie das nicht ganz unwesentliche Requisit eines studentischen Brauchs, bei dem Studenten der Hochschule Esslingen mit geschulterten Leitern, immer einen Fuß auf den Bürgersteig und einen auf den Rinnstein – den Kandel – setzend, im Gleichschritt durch Esslingen ziehen, um diverse Kneipen und Gaststätten anzusteuern, wo ihnen ein Freibier winkt. In diesem Sommer feiert dieser fröhliche Brauch sein einhundertjähriges Bestehen. Er wurde rasch Bestandteil der „Kandidatenabfuhr“ – also der feierlichen Verabschiedung der Examenskandidaten der Württembergischen Maschinenbauschule Esslingen, der heutigen Hochschule Esslingen, nach bestandenem Studium.
Der Legende nach hatte alles mit einem feucht-fröhlichen Kneipenabend einiger Studenten in der Zollbergwirtschaft angefangen. Nach der Sperrstunde wanderten die Kneipengänger um 1 Uhr morgens noch den Zollberg hinauf, wo sie auf einem Baumgrundstück eine etwa 30-sprossige Leiter mitnahmen. Die Leiter wurde kurzerhand geschultert und im Gleichschritt ging es auf der Straße in Richtung Stadt. Die fröhliche Runde kam auf ihrem Weg zweimal mit Hütern des Gesetzes in Konflikt. Beim ersten Mal ermahnte sie ein Schutzpolizist bei der Pliensaubrücke, nicht mitten auf dem Weg sondern auf dem Bürgersteig zu gehen. Beim zweiten Mal auf der Höhe der Inneren Brücke war es wiederum ein Wachtmeister, der, um dem Ulk ein Ende zu bereiten, der Gruppe befahl, ihm auf die Wache zu folgen und dabei gefälligst nicht auf dem Bürgersteig zu gehen. Die angeheiterten Studenten reagierten auf die offensichtliche Widersprüchlichkeit in den Anordnungen der Obrigkeit auf ihre Weise, taten ganz wie befohlen und folgten dem Wachtmeister mit je einem Bein auf dem Bürgersteig und mit dem anderen auf dem Kandel gehend – der Kandelmarsch war geboren!