März 2022 - „Heimatkunde von Annalise Kiemle, Schülerin der Kl. IV“

„Heimatkunde von Annalise Kiemle, Schülerin der Kl. IV“
Papier, Tusche
Annalise Kiemle
1913

(Stadtmuseum im Gelben Haus, STME 007856)

Aufgeschlagenes Buch mit eingeklebter Postkarte, Grundrissplan eines Hauses sowie fein säuberlicher Handschrift.
Fotografie: Michael Saile

„Wir dürfen in der Heimatkundekl[asse] Aufsätze schreiben, die uns mal in späteren Jahren als l[iebe] Erinnerung an unsere Jugendheimat wert sein werden.“ Mit diesen rührseligen, einleitenden Worten beginnt die Viertklässlerin Annalise Kiemle ihre Aufzeichnungen über ihre Heimatstadt Esslingen im Jahr 1913. Auf 76 sorgfältig von Hand beschriebenen Seiten schildert sie in elf Kapiteln ihren Wohnort und dessen Geschichte, reich bebildert mit kleinen Zeichnungen, Fotografien, Postkarten und Zeitungsartikeln.
Annalise Kiemle, Jahrgang 1903, war die einzige Tochter des Esslinger Arzts Wilhelm Johannes Kiemle und seiner Frau Katharina Marie Elise. Seit 1907 wohnte die Familie in der Pliensaustraße 8, dem Paracelsusgebäude, auf der 2. Etage. Die Eltern legten großen Wert auf die Ausbildung ihrer Tochter und schickten sie auf die Höhere Mädchenschule. Nach ihrem Abitur 1922 studierte sie in Tübingen Germanistik, Anglistik und Romanistik. Nachdem sie für einige Jahre an verschiedenen Schulen in Süddeutschland tätig gewesen war, unterrichtete sie von 1933 bis 1936 an der Deutschen Schule in Istanbul. 1938 zog es sie zurück nach Esslingen und wieder an die Höhere Mädchenschule (inzwischen Mädchenoberschule genannt) – nun stand sie allerdings nicht mehr vor, sondern hinter dem Lehrerpult. Zunächst als Studienrätin tätig, übernahm sie 1955 die Schulleitung, die sie bis zu ihrer Pensionierung 1969 innehatte. In dieser Zeit war sie unter anderem auch für den Schulhausneubau in Oberesslingen verantwortlich, das heutige Theodor-Heuss-Gymnasium.
Annalise Kiemle beginnt ihre Aufzeichnungen mit Schilderungen aus dem privaten Bereich. Sie beschreibt ihr Wohnzimmer: „Wir haben die Möbel, die wir brauchen, u. die Bilder, die uns gefallen, schmücken unsere Wände. [...] Ich habe auch für unser Wohnzimmer schon Körbchen geflochten u. Abstaubtücher gestrickt u. Blumen gesucht.“ Sie legt sogar einen kleinen Plan bei, in dem neben dem Mobiliar auch das Klavier und ein Vogelkäfig eingezeichnet sind. Im Kapitel „Unser Haus“ beschreibt sie das Gebäude und die Nachbarschaft, gefolgt von einer Beschreibung der Pliensaustraße („Unsere Straße“). Annalise verfasst die Texte in einem sehr nüchternen, sachlichen Stil, doch immer wieder gibt sie auch kurze persönliche Eindrücke preis. Über „Unsere Schule“ schreibt sie: „Mein liebstes Fach ist mir das Turnen, weil wir da oft Spiele machen, das Rechnen macht mir viel Kopfzerbrechen. Bei meinen Hausaufgaben hilft mir meine Mutter, u. ich freue mich, daß sie noch so gut französisch kann.“ Über einen Schulausflug nach Ludwigsburg berichtet sie begeistert über das Mittagessen im König-Wilhelms-Haus, „für 70 [Pfennig] Suppe, Rahmbraten mit Spätzle u. Salat, zum Nachtisch ein Stück Kuchen“ gegessen zu haben.
Die nachfolgenden Kapitel handeln u.a. von den Esslinger Kirchen, dem Markt, dem Rathaus, der Eisenbahn oder der Post. Die Beschreibungen sind von einem kindlichen Stolz geprägt, der stets das Schöne und Besondere hervorheben möchte. Die Kirchen sind „die größten Meisterwerke der Baukunst, die wir besitzen“. Über das Rathaus weiß sie zu berichten: „Wenn ich auch noch jung bin, so habe ich doch schon so manche Verbesserung u. Verschönerung Eßlingens, die auf dem Rathaus beschlossen wurde, gesehen. Z.B. die Straßenbahn, das Gymnasium, die Mittelschule, die Eingemeindung Obereßlingens.“ Das Büchlein schließt mit einem Kapitel über das Wolfstor und dem Satz: „Wenn wir älter sind, dürfen wir vielleicht einmal alle miteinander auf einen Schulspaziergang den Hohenstaufen u. Burg besuchen.“ Ob dieser erhoffte Ausflug stattfand, ist nicht bekannt.
Die erwachsene Annalise Kiemle legte in ihrem pädagogischen Wirken als Lehrerin und Schulleiterin einen Schwerpunkt auf die Gleichberechtigung der Frau. Wie verschiedene Artikel in der Esslinger Zeitung aus den 1960er und 1970er Jahren schildern, ging es ihr bei der Ausbildung insbesondere um ein partnerschaftliches Miteinander von Mann und Frau. 1975 verstarb sie unerwartet auf einer Norwegenreise.

(Erstellt am 01. März 2022)