Mai 2022 - Stickmustertuch der Arbeitsschule Esslingen
Stickmustertuch der Arbeitsschule Esslingen
Leinen, Baumwolle
1880
(Stadtmuseum im Gelben Haus, STME 007875)

Weit gereist ist dieses Esslinger Sticktuch aus dem späten 19. Jahrhundert: In den 1950er Jahren wurde es in rund 8300 km Entfernung auf dem Dachboden eines Hauses in Littleton im Bundesstaat Colorado in den USA entdeckt. Sorgfältig gerahmt hatte es daraufhin viele Jahrzehnte im Besitz der Familie verbracht, bis es schließlich im Jahr 2022 nach Esslingen zurückkehrte.
Das grob gewobene Tuch ist annährend quadratisch und an den Rändern mit einer eingewobenen farbigen Borte in Rot und Grün, den Esslinger Stadtfarben, verziert. Muster, Buchstaben und Zahlen in verschiedenen Farben wurden auf das Tuch gestickt, um unterschiedliche Garne und Sticktechniken zu erproben und zu üben. Die präzise Anordnung und die Ausführung der Geradstiche, Kreuzstiche und Kettenstiche zeigen, dass mit großem Geschick und Sorgfalt vorgegangen wurde. Gefertigt wurde das Werkstück von E. W. – wer sich dahinter verbirgt, ist leider ungewiss.
Bekannt hingegen ist der Ort, an dem die Handarbeit geübt wurde, nämlich die Arbeitsschule Esslingen. 1816 wurde das Kinderarbeits-Institut gegründet, als sich die ohnehin desolate finanzielle Lage der Bürger:innen und der Stadt durch eine Reihe von Missernten dramatisch verschlechterte. Die „klägliche Verwilderung so vieler Kinder in dem zunehmenden Gassen-Bettel“ führte zur Gründung des Esslinger Armenvereins, der Wolle, Stoff, Papier und andere Materialien sowie Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Dort wurden die Kinder beschäftigt und zur „“ angehalten, „da diese die einzige Quelle des Wohlstandes […] ist.“ Sie fertigten Papiertüten und Flechtarbeiten, verlasen Baumwolle, spannen, strickten, nähten und stickten. Die fertigen Erzeugnisse wurden verkauft. Weil die Zahl der teilnehmenden Kinder beständig wuchs, waren die Räume bald zu klein. Das Institut zog in den Waisenhof um; in den 1850er Jahren wurde sogar noch ein weiteres Institut eingerichtet, das aber rund zehn Jahre später wieder aufgelöst wurde. In den 1870er Jahren wurde das Arbeits-Institut hauptsächlich noch von Mädchen besucht. Die Ortsschulbehörde kam zu der Ansicht, die Kinder kämen nur noch wegen des Vesperbrots und das Institut sei somit keine Lernanstalt mehr, sondern eine Bewahranstalt. In der Folge wurde es 1883 seitens der Ortsarmenbehörde aufgelöst. Der bereits 1876 an der Mädchenvolksschule eingeführte Handarbeitsunterricht sollte diese Institution ersetzen, deren erstes Ziel eigentlich die Lohnarbeit gewesen war. Wie das Sticktuch seinen Weg in die Vereinigten Staaten gefunden hat, ist nicht bekannt. Genau wie das Tuch selbst könnte auch sein Fundort ein Beleg für Armut sein: Vielleicht erhoffte sich die Familie ein besseres Leben in Amerika und wanderte deshalb aus.
Stickmustertücher sind selbstverständlich keine Esslinger Erfindung. Ab dem 18. Jahrhundert wurden sie in Europa angefertigt; im islamischen Raum kennt man sie bereits seit dem 9. Jahrhundert. Ihr Zweck war zunächst vor allem das „Notieren“ von neuen Mustern, aber natürlich auch die Übung und Demonstration der eigenen Geschicklichkeit. Insbesondere die jüngeren Tücher waren jedoch einfach Bestandteil des Handarbeitsunterrichts an Schulen. Die Sammlung der Städtischen Museen umfasst bereits einige Stickmustertücher. Dass dennoch ein weiteres Tuch aufgenommen wurde, liegt daran, dass es durch seine Aufschrift „Arbeits=Schule Esslingen“ und die genaue Datierung in einen klaren Kontext gestellt werden kann. Es repräsentiert die soziale Wirklichkeit in Esslingen im späten 19. Jahrhundert, als die fortgeschrittene Industrialisierung mit ihren sozialen Fragen von der Gesellschaft Antworten erforderte. Die Gründung von Industrie- und Arbeits-Schulen im ganzen Königreich Württemberg war eine dieser Antworten.