Tell Geck: "Blick auf Esslingen"
Tell Geck (1895-1986)
Öl auf Sperrholz; 52,5 x 78,0 cm
1940
(Städtischer Kunstbesitz, Inv. 1642)

Esslingen im Kriegsjahr 1940, dargestellt vom Maler Tell Geck, der zu diesem Zeitpunkt mit Berufsverbot belegt war. Der Künstler zeigt die Stadt von Süden, vom Eisberg aus über den Neckar hinweg blickend. Abgebildet sind die Werkshallen und Schlote der Kammgarnspinnerei Merkel & Kienlin. Daneben das Gärtnerhaus und die Villa Merkel, inmitten von Bäumen, gerahmt durch die Bahngleise auf der einen und den Neckar auf der anderen Seite. Im Hintergrund erhebt sich die Burg und zeugt von der Bedeutung Esslingens in der vorindustriellen Zeit. Der Ausdruck der Malerei ist expressionistisch, die Bäume erinnern in ihrer gen Himmel strebenden Wuchsart an die Schornsteine der Fabrik. Die Fabrik scheint sich in die Natur einzuordnen. Es ist die Ambivalenz zwischen Natur und gebauter Umwelt, die die Widersprüchlichkeit des industriellen Aufschwungs beschreibt: Einerseits wirtschaftliches Fortschrittsdenken, andererseits der Versuch, trotz des industriellen Wachstums eine Art vom Menschen gemachte, zweite Natur nachzuahmen. In dem Gemälde finden sich diese Kontroversen wieder, ungeschönt und ausdrucksstark.
In Gemäldeansichten Esslingens zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen die Schornsteine der Industrie neben den Bäumen wie eine zweite Natur. Viele dieser Schornsteine wurden während des Zweiten Weltkriegs abgebrochen, um die Fabriken vor Luftangriffen zu schützen. Zu Zwecken der Tarnung entwickelte der Maler Oskar Schlemmer einen Anstrich für den Stuttgarter Gaskessel, um ihn durch diese „Camouflage“ vor der Zerstörung zu bewahren. Hans Merkel, Urenkel von Oskar Merkel und von 1929 bis zur Liquidierung 1973 Leiter der Kammgarnspinnerei, berichtet in seinen Kriegstagebüchern, dass auch das Werksgebäude von Merkel & Kienlin schwarz, grün oder braun bemalt und ein Kamin abgebrochen wurde. Die Fabrik sollte aus der Luft wie eine Landschaft aussehen. In den Eisberg wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs unter erheblichem materiellem und personellem Aufwand ein Stollen getrieben. Vermutlich diente er als Schutzraum für die Belegschaft, die ihn über den Alicensteg erreichen konnte.
Der in Offenburg geborene Maler Tell Geck lebte ab 1919 in Stuttgart. Von 1933 bis 1945 war er von den Nationalsozialisten mit einem Ausstellungs- und Berufsverbot belegt. 1986 kaufte die Stadt Esslingen das Gemälde, das daraufhin in den Räumen des damaligen Oberbürgermeisters Eberhard Klapproth hing. Dass dieses wirkungsvolle Gemälde von 1940 erhalten blieb und nun als Objekt des Monats im Stadtmuseum zu sehen ist, kann auch als Erinnerung an eine Zeit gelesen werden, in der viele Geschichten nicht erzählt werden durften. Künstler:innen wie Tell Geck haben durch Widerständigkeit und Mut ihrer Nachwelt ermöglicht, heute genau diese Geschichten wieder zu entdecken, zu erinnern und mitzudenken im Hier und Jetzt.
Für die Ausstellung „Surface Treatments – 150 Jahre Zeit“ begaben sich die Künstlerinnen Ann-Kathrin Müller, Julia Schäfer und Judith Engel auf die Spuren der Geschichte der Villa Merkel. Bei der Recherche stießen sie auf eine Reproduktion des Gemäldes, die schlussendlich als Vorlage für eine weitere Reproduktion diente, die noch bis zum 22. Oktober in der Villa Merkel im Rahmen der Ausstellung zu sehen ist: eine 460 x 650 cm große PVC-Plane, im ehemaligen Esszimmer der einstigen Fabrikantenvilla. Eine Erinnerung an die Landschaft, die mal da war und heute nicht mehr ist. Ein langsam verblassendes Bild in der kollektiven Erinnerung daran, wie unsere Stadtlandschaft entstand.
Die Ausstellung „Surface Treatments — 150 Jahre Zeit“ findet anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Villa Merkel statt. Das Projekt fokussiert die Geschichte des Hauses und die Entwicklung der Esslinger Gesellschaft in diesen 150 Jahren Zeit.