Stadtkirche aus Klemmbausteinen - September 2025

Das Modell bildet in der Reihe „Historische Schätze“ eine Ausnahme, denn es wird nur temporär im Stadtmuseum zu sehen sein und – zumindest in dieser Zusammensetzung – auch nicht mehr gezeigt werden können. „Der alte Mann und der Stein“ hat weitere Projekte in Planung und benötigt dafür die verbauten Steine. Das physische Objekt ist in diesem Fall vergänglich – die digitalen Baupläne bleiben für die Nachwelt erhalten.
Als der fränkische Abt Fulrad in der Mitte des 8. Jahrhunderts auf einem Schwemmkegel am Neckar einen kleinen steinernen Kirchenbau errichten ließ, träumte er womöglich davon, dass eines Tages an dieser Stelle ein deutlich größeres Gotteshaus stehen würde. Doch es sollte noch ein halbes Jahrtausend und mindestens einen Nachfolgebau dauern, bis an dieser Stelle die Stadtkirche St. Dionys (weitestgehend) in ihrer heutigen Gestalt entstand. Über Jahrhunderte hat sie die Menschen in Esslingen inspiriert, und das nicht nur spirituell. In der Sammlung der Städtischen Museen Esslingen befinden sich zahlreiche Ölgemälde, Skizzen und Grafiken, die das stadtbildprägende Gebäude mit den beiden Türmen und einem verbindenden Steg – bis ins 19. Jahrhundert sogar zwei Stege – aus verschiedenen Blickwinkeln wiedergeben.
Eine Darstellung der Stadtkirche, wie sie bisher im Stadtmuseum noch nicht zu sehen gewesen ist, wurde im Kreis Böblingen über viele Monate akribisch geplant und schließlich aus Klemmbausteinen eines bekannten dänischen Herstellers, aus LEGO®, gefertigt. Das Modell des dreischiffigen Kirchengebäudes hat den Maßstab 1:75 und besteht aus 34.940 Steinen. Mit dieser enormen Anzahl an Steinen handelt es sich jedoch „nur“ um das drittgrößte Modell, das bislang durch die Hand des Designers und Erbauers entstand. Der Bau hat eine Länge von 93,6 cm, eine Breite von 43,2 cm und ist bis zur höchsten Spitze des Nordturms 78,4 cm hoch. Er ist nicht auf einer handelsüblichen Noppenplatte verankert, wie man sie aus dem Kinderzimmer kennt. Stattdessen ruht er auf einem massiv gebauten Fundament, um die Stabilität des gesamten Modells zu garantieren. Das Gewicht des Kirchengebäudes würde eine Noppenplatte einfach zerbrechen lassen.
Der Modelldesigner ist der studierte Physiker Martin Schaal. In den sozialen Medien und in der Klemmbaustein-Szene ist er unter seinem Nickname „Der alte Mann und der Stein“ bekannt. Rund 350 Arbeitsstunden hat er in das Gebäude gesteckt. Dazu zählt nicht nur das eigentliche Bauen, also das Zusammenstecken der Steine – viele Stunden flossen im Vorfeld in die Recherche und die Planung. Die Hauptquelle und Basis für seine digitalen Baupläne bildet die detaillierte Ausgrabungsdokumentation des Landesamts für Denkmalpflege Baden-Württemberg. Als in den 1960er Jahren in die Stadtkirche eine Fußbodenheizung eingebaut werden sollte, wurden denkmalpflegerische bzw. archäologische Maßnahmen notwendig. Bis 1963 wurde das komplette Innere der Kirche ausgegraben, wobei außer zahlreichen Gräbern unter anderem auch die Reste der Vorgängerbauten St. Vitalis I und II samt Um- und Anbauten zum Vorschein kamen. Die Pläne sind in einer dreibändigen Publikation aus dem Jahr 1995 zugänglich. Martin Schaal erstellte auf dieser Grundlage am Computer ein digitales Modell für Klemmbausteine (einschließlich zweier digitaler Modelle der Vorgängerbauten) und machte sich anschließend an den Bau.
Klemmbausteine sind ein Hobby für Jung und Alt. LEGO® gilt als die wertvollste Spielzeugmarke der Welt; die Steine sind heute in den allermeisten Kinderzimmern zu finden. Doch Klemmbausteine wurden bereits in den 1930er Jahren in den USA entwickelt – damals noch aus Gummi. Ab 1949 begann der dänische Hersteller LEGO® mit der Fertigung von Klemmbausteinen aus festem Material: zunächst aus Cellulose-Acetat, ab 1963 aus dem Kunststoff Acrylnitril-Butadien-Styrol-Copolymer. Das Material ist elastisch genug, um eine Klemmwirkung zu entwickeln und gleichzeitig ein wiederholtes Auseinander- und erneutes Zusammenbauen zu ermöglichen. Im Gegensatz zu Bauklötzen mit glatten Oberflächen lassen Klemmbausteine sich kraftschlüssig und formschlüssig (d.h. durch das Drücken bzw. Greifen der einzelnen Elemente ineinander) stabil zusammenfügen.
Podcast des Stadtmuseums „Studio Gelbes Haus“, Episode XXI: „Esslingen Altstadt aus Lego“