Wohnen wie im Märchen
Hochwacht-Stipendium: Lilian Kraft lebt ein halbes Jahr auf der Esslinger Burg und arbeitet an ihrer Doktorarbeit. Wir haben sie besucht.

Das Herz klopft, die Wangen glühen – wer die über 300 steilen Stufen zur Esslinger Burg erklommen hat, weiß, wie sich Lilian Krafts Heimweg anfühlt. Seit Anfang Mai wohnt die 28-jährige Doktorandin in der Hochwacht, dem markanten Häuschen links vom Dicken Turm. Dort forscht sie an Bauten des 20. Jahrhunderts. Möglich macht das ein Stipendium der Stadt Esslingen und der Wüstenrot Stiftung. „Es geht mir vor allem um Heimatschutzarchitektur von 1900 bis 1960 – von meinem Schlafzimmer aus sehe ich sogar Villen dieser Art an der Panoramastraße“, sagt sie begeistert.
Überraschend viel Platz
Wir klopfen an. Die schwere Holztür öffnet sich, Lilian Kraft führt uns über die schmale Treppe in die erste Etage. Alles ist aus Holz, lichtdurchflutet, und überraschend geräumig. „Ich war selbst überrascht, wie viel Platz es hier oben gibt“, sagt sie mit einem Lächeln. Rechts eine gemütliche Leseecke mit Sessel, links die Küche mit integriertem Bad, dazwischen der Esstisch – mit unschlagbarem Ausblick: Von hier sieht man über die Dächer der Stadt bis weit ins Neckartal. „Gestern konnte ich die Blitze eines Gewitters beobachten – das war faszinierend“, erzählt sie.
Mit Einkaufstaschen die Treppen hinauf
Lilian Kraft hat in Siegen studiert und lebt normalerweise in Köln, im ersten Stock eines Altbaus. Jetzt genießt sie die Ruhe und das besondere Ambiente ihres Esslinger „Premium-Wohnsitzes“, um sich auf ihre Doktorarbeit zu konzentrieren. Jeder Tag sieht anders aus: Sie ist viel auf Streifzügen – mal in Archiven oder beim Fotografieren von Gebäuden. Danach verarbeitet sie das Material am Schreibtisch. Ihre Sorge, in Esslingen könne es langweilig werden, sei schnell verflogen: „Kulturell ist hier richtig viel los – von der Freilichtbühne über Führungen bis zum Festival und Kino oben auf der Burg.“ Aktuell wird direkt unter ihrem Fenster die Bühne aufgebaut. „Ich bekomme sogar ein Bändchen für den Backstage-Bereich – nicht, dass ich versehentlich als Groupie verhaftet werde“, scherzt sie. Ein besonderes Schauspiel bieten auch die Brautpaare, die sich im Burggarten fotografieren lassen: „Manchmal spielen sich da richtige Dramen ab“, sagt sie schmunzelnd. Auch beim Einkauf muss sie manchmal lachen – etwa, wenn sie sich im Supermarkt überschätzt hat und dann mit mehreren Tüten die endlosen Stufen zur Burg hinaufsteigt. „Da mache ich alle zehn Stufen Pause – und ernte neugierige Blicke.“ Nicht selten wird sie unterwegs gefragt, was sie da oben überhaupt macht. „Viele denken, die Hochwacht sei bloß ein Geräteschuppen oder so.“
Runter mit der Rettungsrutsche
Dabei hat das Häuschen Geschichte: Früher warnte ein Hochwächter von hier aus die Stadt vor nahenden Feinden. Auch das obere Stockwerk beeindruckt: Rechts das Büro mit großem Schreibtisch und Bücherregalen, links ein Doppelbett – mit Blick auf die Mülbergerstraße. Neben dem Fenster zum Burggarten steht ein merkwürdiger Kasten. An der Wand klebt eine Anleitung. „Das ist die Rettungsrutsche“, erklärt Lilian Kraft. Unter dem Deckel verbirgt sich eine schlauchartige Notfallrutsche, die 13 Meter in die Tiefe führt. „Ich musste das einmal üben – es ist nicht so schlimm, wie man denkt. Man kann die Geschwindigkeit selbst steuern.“ Notwendig ist das System, weil die Hochwacht komplett aus Holz besteht und es im Brandfall nur einen Ausgang gäbe.
Bewerben bis 15. Dezember 2025
Nach fast drei Monaten fühlt sie sich bereits heimisch auf ihrer Burg. „Mir wird ganz schwer ums Herz, wenn ich an den Auszug Ende Oktober denke“, sagt sie. Ein kleiner Trost: Im Winter ist das Häuschen ohnehin nicht bewohnbar – es ist schlicht zu kalt, und beheizt werden kann es kaum. Kein Wunder: Als Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlage hat die Hochwacht schon etliche Jahrhunderte überdauert.
Wer auch mal da oben wohnen möchte, kann sich hier über das Hochwacht-Stipendium informieren:
Büro des Oberbürgermeisters